Die hohe Kunst der Balance.
Magazin14.04.2022Manuel Huber
Samuel Volery bewegt sich am liebsten da, wo andere Schwindel befällt: Auf einer Slackline in luftiger Höhe. Der mehrfache Weltrekordhalter weiss aus eigener Erfahrung, dass Slacklining mehr als nur Spass ist.
Wer zum ersten Mal auf eine Slackline steht, erlebt ein kleines Wunder. Es zittern einem die Füsse weg, die Knie schwabbeln, der Kopf will alles kontrollieren, kann aber nicht. An auf-stehen oder gar gehen auf dem dünnen Gurt aus synthetischen Fasern ist nicht zu denken. «Monosynaptischer Reflex nennt sich das», erklärt Samuel Volery, der an der ETH Zürich Bewegungswissenschaften studierte. Auch ihm passierte das am Anfang, damals vor über 15 Jahren, als Slacklining vor allem in der Kletterszene bekannt war. Dort hat die Sportart ihren Ursprung. Kletterer balancierten im Yosemite-Nationalpark bei schlechtem Wetter zum Zeitvertreib auf ihrer Ausrüstung herum. In den letzten Jahren hat Slacklining einen regel-rechten Boom erlebt. Es entstanden immer neue Disziplinen, mit immer neuen Bestleistun-gen. Slacklines werden möglichst weit gespannt (Longline) oder über Wasser (Waterline), sie werden für Kunststücke genutzt (Trickline) oder in luftiger Höhe angebracht (Highline).
Freestylen über dem Abgrund
Samuel Volery hat die Sportart – insbesondere die Königsdisziplin Highline – massgeblich mitgeprägt und zahlreiche Weltrekorde aufgestellt. Sein bekanntestes Projekt war eine 540 Meter lange alpine Highline zwischen zwei der Churfirsten. 2019 schaffte er es, eine 1’900 Meter lange Highline ohne Sturz zu überqueren. Als einer der weltweit ersten Freestyler auf der Highline hat er auch zahlreiche neue Tricks erfunden. «Die Kombination von Highline und Freestyle fasziniert mich am meisten, obwohl ich dabei körperlich am Limit bin.» Für ihn als 36-Jährigen sei es die optimale Freestyle-Sportart. «Ich stürze in einer Session bis zu 50 Mal, was ohne Folgen bleibt, weil ich gut gesichert ins Leere falle.» Für die meisten Menschen ein Albtraum, für ihn das pure Leben. «Tief im Herzen war ich immer ein Freestyle-Sportler», sagt Volery. Slacklining packte ihn aber erst nach einem Kreuzbandriss. Er spannte in der Turnhalle eine Slackline und trainierte darauf sein verletztes Knie, während er sich an einem Barren festhielt. «Die Slackline hatte einen unglaublichen Effekt. Mein Knie wurde sehr rasch stabil.»
Einsatz in der Sportmedizin
Verletzungen wie Bänderrisse oder Meniskusverletzungen werden in sanft aufbauenden The-rapien seit längerem mit Slacklines erfolgreich behandelt. Man nutzt sie auch zur Prävention und zu Trainingszwecken. Beispielsweise im Skisport. «Slacklines eigenen sich sehr gut, um die Rumpfstabilität zu verbessern, also das Zentrum unseres Körpers», erklärt Corinne Albani, Leiterin der Physiotherapie St. Anna am Bahnhof in Luzern. «Je stabiler der Rumpf, desto besser können Beine und Arme kontrolliert werden. Dadurch verringert sich das Risiko von Stürzen und Verletzungen.» Auf einer Slackline ist der Körper von Kopf bis Fuss gefordert. «Das Nervensystem muss die Reize blitzschnell verarbeiten und die Muskeln präzise ansteuern um den Körper laufend zu stabilisieren.» Das schult unser Gleichgewicht und verbessert unsere Reaktionsfähigkeit. «Die Arbeit mit der Slackline kann auch die Beinachse verbessern, also dafür sorgen, dass Hüfte, Becken und Knie auf einer Linie sind», ergänzt Albani. «Dadurch werden Fuss- und Kniegelenke vorteilhafter belastet, was zu einer besseren Haltung und optimalen Kraftübertragung führt.»
Spektakel auf der Musenalp
Wer in der Region erleben will, wie die hohe Kunst des Slacklining aussieht, reist am besten auf die Musenalp oberhalb von Niederrickenbach. Dort ist Samuel Volery mit der Stanser Highline-Crew regelmässig anzutreffen. Sie spannen bis zu acht Highlines in alpiner Umge-bung und üben ihre Tricks. Volerys neuste Erfindung: Der Reverse Supersonic. Bei diesem Trick bringt er die Slackline zum Bouncen (3 bis 4 Meter hoch und runter), lässt sich dann fallen, packt sie mit den Händen, macht beim Hochschwingen der Slackline eine Rückwärts-rolle und landet – im besten Fall – wieder auf den Füssen. «Bis ich den Trick stand, stürzte ich 300 Mal ins Leere», erzählt er lachend. Über solche Tricks spricht er lieber als über Weltrekorde, die für ihn vor allem «eine Challenge von mir an mich selbst sind, um zu be-weisen, dass etwas möglich ist.» Trotz seiner Erfolge ist Samuel Volery ein bescheidener Mensch, der ganz einfach das Spiel mit der Schwerkraft liebt.
Impressionen
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