Das Eisenbahnvirus in der Muttermilch.
Magazin09.05.2022Thomas Keiser
Ernst Christen ist in der Erscheinung eine stattliche Figur und ein leidenschaftlicher Erzähler. Seit Jahren bereits in Balzers, Fürstentum Liechtenstein, heimisch, werden im Gespräch seine Nidwaldner Wurzeln spürbar. Seine Mutter wirkte als Barrierenwärterin in Hergiswil, während sein Vater als Gramper bei der Brünigbahn im Einsatz stand. Zur Geschichte.
Hergiswil, Nidwalden, 1946: Durch das malerische Dorf mit der grossen Glashütte schmiegt sich die Eisenbahn nunmehr seit 57 Jahren dem kupierten Gelände an. Das letzte Haus an der Kantonsgrenze zu Luzern bildet der Posten 6d. Ein schmuckes, kleines Barrierenwärterhaus mit den schönsten Hortensien und Geranien weit und breit, in welches Ernst Christen mit zwei älteren Geschwistern hineingeboren wird.«Das Eisenbahnvirus habe ich mit der Muttermilch getrunken», sagt er im Gespräch und zeigt auf seine mitgebrachte Malerei. «Während ich im Sandhaufen spielte, erledigte meine Mutter die Wäsche sowie den Haushalt und betätigte stündlich die Barriere.» Eine Glocke gab an, aus welcher Richtung der Zug eintraf; läutete sie einmal, so kam der Zug von Hergiswil, bei zweimaligem Schellen fuhr der Zug Richtung Brünig.
Die Handarbeit des Grampers
Während sich seine Mutter der Barriere widmete, war Vater Alois Christen als Gramper unterwegs. Der Begriff «Gramper» ist durch das Aufkommen von Grampmaschinen aus den Büchern verschwunden. In den Anfängen der Eisenbahn bis in die 50erJahre wurden die Schottersteine unter den Gleisen massgeblich von Hand durch die Gramper gestopft. «Wisi, gib den Takt», hiess es jeweils frühmorgens. Sein Vater trug als VorarbeiterStellvertreter die Verantwortung für die Gruppe der Gramper, die zuständig für die Strecke zwischen Horw und Giswil war. Vier bis sechs Gramper schritten von Schwelle zu Schwelle und schlugen die Steine im Takt unter die Schwellen. Und dies jeden Tag. «Den Takt der speziellen Gramppickel habe ich jetzt noch im Gehör», sagt Christen und zeigt mit einem Schmunzeln im Gesicht auf seine Ohren. Neben der Gramparbeit war der Vater von Christen mit dem berühmten «Gumpesel» Tm 100, jetzt zb Historic, in Hergiswil unterwegs. Unter anderem wurde mit diesem Fahrzeug Kohle und Quarzsand für die Glashütte umgeschlagen.
Rottenköchin im Test und Zahltag per Schienentraktor
Zuständig für eine formidable Verpflegung der Gramper war die Rottenköchin. Ein ausgezeichnetes Organisationstalent und aufmerksames Gastgebertum waren Grundvoraussetzungen, um es in die Endrunde als Köchin zu schaffen. «Interessanterweise durften die Rottenmitglieder/Gramper die Rottenköchin wählen. Die Männer liessen sich von den Bewerberinnen bekochen und entschieden anschliessend, wer künftig hinter dem Herd des Rottenwagens stehen durfte.» Vielleicht war es unter anderem dieser Umstand, der Vater Christen verleitete, zu sagen, dass die «Tschifäler» (Obwaldner) komische «Chäibä» seien.
Auf Schienen wurde gespeist, auf Schienen empfingen die Eltern von Ernst Christen den Zahltag. Der Bahn und der Bahnvizemeister rollten monatlich mit dem grünen Schienentraktor an und händigten der Barrierenwärterin und dem Gramper ihre Zahltagsäckchen aus. Ein freudiges Ereignis, denn mit der Übergabe des Geldes wurde die harte Arbeit von Mutter und Vater entlöhnt.
Rasante Entwicklung
Ab den 50erJahren entwickelte sich das Verkehrsaufkommen im Lopperdorf in rasantem Tempo. Thekla, die Mutter von Ernst Christen, wurde am Sonntag von Helfern unterstützt. Sie waren zuständig fürs Aufhalten der Fahrzeuge, sodass die Barrierenwärterin die Schranken senken konnte. Kleinere und grössere Unfälle häuften sich, von Nasenbrüchen der Velofahrer bis hin zu Barriereholmen, die sich durch einen Car «bohrten», gab es viel zu erzählen am Abendtisch bei Christens.
Mit dieser Entwicklung ging auch das Ende des hübschen Barrierenwärterhauses einher. 1958 zog die Familie ins Dorf an die Renggstrasse. Die Faszination für die Bahn blieb Christen erhalten. Obwohl er beruflich den Weg als Historiker einschlug, blieb er mit der Bahnwelt verbunden. Heute ist er als geprüfter Reisebegleiter TR Transrail mit der Museumseisenbahn der EUROVAPOR unterwegs und bringt sein immenses Wissen ab und zu an die Frau und an den Mann.
Impressionen
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